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US-Stahlbildhauer Richard Serra ist tot

27. März 2024

Das Schwere machte er leicht: Richard Serra schuf Skulpturen aus Stahlplatten von gigantischen Ausmaßen. Viele von ihnen ließ er in Deutschland produzieren. Jetzt ist der US-Amerikaner im Alter von 85 Jahren gestorben.

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US-Künstler Richard Serra in einer Schwarzweiß-Aufnahme
US-Künstler Richard SerraBild: Bertrand Guay/AFP/dpa/picture alliance

Was wäre die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne Richard Serra? Ohne sein unerschütterliches Vertrauen in die wundersamen Energien der Schwerkraft und das Zusammenspiel von Technik und Natur. Sein ganzes Leben lang hat er daran gearbeitet, Werke zu schaffen, die mit ihrer Umgebung interagieren und die erst durch den Betrachter vollendet werden. Denn nur, wer einmal eine Skulptur von Serra betreten oder sie langsamen Schrittes umrundet hat, weiß, wie sehr diese Werke für den Menschen geschaffen wurden. Und das, obwohl ihr Volumen menschliche Maße weit übersteigt. Serras Skulpturen wachsen in den Himmel, sind tonnenschwer, stellen sich den Menschen in den Weg oder verschmelzen mit der Natur.

Gigantische Stahlskulpturen in der Wüste
In Katar schuf Richard Serra vor der WM 2022 diese Skulpturen in der WüsteBild: MUSTAFA ABUMUNES/AFP

Richard Serra war eine Mischung aus Bildhauer und Baumeister

Serra sah sich selbst nicht als Bildhauer, sondern als Baumeister. Das lag daran, dass er viele Skulpturen für den öffentlichen Raum schuf: auf Verkehrsinseln, vor Museen, in Parks. Außerdem verlangte das Material Stahl, das er in den 1970er-Jahren für seine Kunst entdeckte, eine besondere Logistik. Serra arbeitete nicht in der Abgeschiedenheit des Ateliers: sondern mit Ingenieuren, Stadtplanern, Transportarbeitern und Monteuren. Anderswo als in den Hallen der Schwerindustrie war es gar nicht möglich, seine Riesenkunst zu produzieren.

US-Künstler Richard Serra steht vor einer Stahlskulptur in einem Museum
Richard Serra vor seiner Skulptur "Olson" von 1986Bild: Andreas Frossard/dpa/picture alliance

Die bedeutendsten seiner Stahlskulpturen wurden in deutschen Stahlhütten gefertigt. BeiThyssen in Hattingen oder bei Krupp am Niederrhein. Das Ruhrgebietnannte Serra deshalb einmal sein "wahres Atelier". Nicht nur dort, auch im Saarland ließ er produzieren. Er verwendete Cor-Ten-Stahl, ein Edelroststahl, der besonders aufwendig zu bearbeiten war. Dieser hatte den Vorteil, beim Verwittern keinen Rost im herkömmlichen Sinn zu bilden. Es entstand eine braun-violette Färbung, eine spezielle Farbigkeit, die Serra als "Patina" bezeichnete.

Sohn einer Einwandererfamilie

Richard Serra wurde als Sohn einer jüdisch-russischen Mutter und eines spanischen Vaters am 2. November 1939 in San Francisco geboren. Er war der erste gebürtige US-Amerikaner seiner Familie, was ihm ermöglichte, wie er selbst einmal sagte, "einen kritischen Blick auf sein Heimatland zu werfen". Nach dem Studium der englischen Literatur in Berkeley begann er in Yale Kunst zu studieren und wurde zum Assistenten des deutschen Exilkünstlers Josef Albers. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, schuftete er in einem Stahlwerk.

Eine Stahlplatte ragt auf einer kargen Fläche in den Himmel, darauf Graffittis
Im Ruhrgebiet schuf Richard Serra die "Bramme" auf einer ehemaligen AbraumhaldeBild: Jochen Tack/dpa/picture alliance / Jochen Tack

Schon in seinem Frühwerk, bei dem er mit Gummi und Blei arbeitete, machte er sich auf die Suche nach einer eigenen Formensprache. Seine ersten Schritte richteten sich gegen die fest definierten Regeln der Minimal Art: Gummistreifen ließ er wie Halfter von der Wand hängen, 1968 schleuderte er flüssiges Blei in Raumecken. Auch seine stählernen Skulpturen aus geraden, gekurvten, gekippten Platten waren nicht "L'Art pour l'Art", sondern bauten eine Beziehung mit der Umgebung auf.

Serra wurde auf der Documenta in Kassel entdeckt

1977 war Richard Serra zum zweiten Mal zur Weltkunstschau Documenta nach Kassel eingeladen. Für die Ausstellungszeit von 100 Tagen stellte er die Skulptur "Terminal", Endstation, vor dem Fridericianum, dem zentralen Ausstellungsgebäude, auf. Drei gigantische Stahlplatten lehnten so aneinander, dass sie aussahen, als könnten sie jederzeit kollabieren. Nach dem Ende der Ausstellung wurde "Terminal" für 300 000 Mark nach Bochum verkauft, wo die Skulptur auf einer Verkehrsinsel in der Nähe des Bahnhofs aufgestellt wurde. Der Ankauf sorgte für großes Aufsehen und erntete auch viel Protest in der Bergarbeiterstadt, die so viel Geld für "Schrott" für Verschwendung hielten. 2005 schuf Serra für das Guggenheim Museum in Bilbao (Spanien) eine begehbare Installation aus 7 monumentalen Stahlskulpturen - zu diesem Zeitpunkt mit 20 Millionen € das teuerste und mit gut 1000 Tonnen Gewicht wohl auch das schwerste Auftragswerk, das je für einen Museumsraum entwickelt wurde.

Skulptur 'Terminal' von Richard Serra vor dem Bahnhof in Bochum: vier hohe rostige Stahlplatten
Skulptur "Terminal" von Richard Serra steht heute in BochumBild: S. Ziese/blickwinke/picture alliance

Ortsbezogenheit von Serras Kunst

Richard Serra war ein Künstler, der wie kaum ein anderer ortsbezogen gearbeitet hat, ja der dem Begriff "site-specific" in der Kunstgeschichte eine neue Bedeutung gegeben hat. Er entwarf seine Stahlarbeiten für jeden Ort neu: In der Planungsphase baute er maßstabsgetreue Modelle und simulierte die Umgebung. So konnte er seine Werke perfekt an den Raum anpassen. Mal ordneten sie sich der Natur unter. Mal stellten sie sich dem Betrachter provokativ in den Weg - wie in Bochum - oder zwangen ihn, seinen Weg zu ändern. Immer sind sie von überwältigender physischer Präsenz.

Spiralförmige Stahlskulptur von Richard Serra, in deren Mitte Kinder sitzen
Im nordspanischen Bilbao schuf Richard Serra eine der schwersten Skulpturen, die je in einem Museum zu sehen warenBild: Afredo Aldai/dpa/picture alliance

In einem Interview aus dem Jahre 1980 äußert sich Serra ausführlich zu den kontextuellen Bezügen seiner Skulpturen: "Ich glaube, dass wenn Skulptur überhaupt ein Potential hat, dann das, sich ihren eigenen Ort und Raum zu schaffen und sich in Widerspruch zu den Räumen und Orten zu stellen, für die sie gemacht wurde." Mit Richard Serra ist ein großer und visionärer Künstler gestorben. Er starb im Alter von 85 Jahren in New York an den Folgen einer Lungenentzündung. 

Autorin Sabine Oelze
Sabine Oelze Redakteurin und Autorin in der Kulturredaktion